Historisches Kalenderblatt 1989 - 2009 (Teil 5): 23. Oktober: Das erste Friedensgebet

"Erstes Friedensgebet - unglaubliche Menschenmassen. In der Kirche und vor der Kirche. Schätzung: 5000" - mit diesen emotionalen Worten beginnt der Eintrag Margot Friedrichs in ihrem "Tagebuch der Revolution" unter dem 23. Oktober.
Unabhängig davon, dass die Eisenacher Staatssicherheit durch ihren "Inoffiziellen Mitarbeiter" (IM) eine Teilnehmerzahl von 4000 ermittelt hatte, bleibt es unverkennbar: Die Anzahl der politisch Interessierten hatte sich gegenüber der Veranstaltung am 10. Oktober in der Paul-Gerhard-Kirche nahezu verzehnfacht. Die "Eisenacher Revolution" hatte Fahrt aufgenommen, war nun zu einer Massenbewegung geworden.

Völlig zu Recht konstatierte der Landesjugendpfarrer Christhard Wagner, der die Veranstaltung eröffnete: "Wir erleben voller Hoffnung, dass unser Land in Bewegung gerät. Viele warten nicht mehr vor dem Fernseher, dass sich etwas ändert, sie fangen dort an, wo Veränderung am schnellsten möglich ist, sie ändern sich selbst, sie gewinnen ihre Sprache und Würde zurück und staunen, wie daraus etwas Hoffnungsvolles wächst."

Wie armselig dagegen die Berichterstattung des IM, der Wagner nur jene ironische Äußerung zuschreibt, wonach "es jetzt viele Politiker in der DDR gäbe, die versuchen, neue Jacken anzuziehen, und seltsamerweise würden diese neuen Jacken allen passen."

Anschließend berichtete Landesbischof Dr. Werner Leich über sein Gespräch mit dem neuen "Ersten Mann", Egon Krenz am 18. Oktober. Leich konfrontierte Krenz bei diesem Gespräch mit den zahlreichen Mißständen im Land und stellte u.a. fest das ein neues Wahlverfahren notwendig sei, "das dem einzelnen Bürger die Möglichkeit gibt, durch seinen Stimmzettel eine persönliche Entscheidung über den Kandidaten und das vertretene Programm zu fällen". Er forderte "Rechtsstaatlichkeit mit dem Grundsatz: gleiches Recht für alle" sowie "Gespräche über Bildungswesen und Wehrdienst im zivilen Bereich."

Die Versammelten lauschten mit zunehmender Leidenschaft den Ausführungen - und mancher musste sich gewiss dazu zwingen, der einleitenden Bitte des Landesjugendpfarrers zu entsprechen und Beifallsbekundung nicht durch Trampeln mit den Füßen zum Ausdruck zu bringen, da dies die Statik der Kirche nicht aushalte. Anschließend sprachen noch Dr. Hasse, Margot Friedrich, Christhard Wagner, Oberkirchenrat Martin Kirchner sowie Reinhard Lorenz vom Landestheater Eisenach über mögliche weitere Initiativen auf dem Weg der friedlichen Revolution.

Unvergessen blieb den Teilnehmern, wie der Landebischof anschließend den Georgenbrunnen "erklomm", um von hier aus zu jenen zu sprechen, die nicht in der Kirche sein konnten. Erst gegen 21 Uhr endete das erste Eisenacher Friedensgebet in der Georgenkirche.